2. Kapitel, Teil 1: Ich bin’s, die Frieda!

An meine ersten vier Lebensmonate kann ich mich überhaupt nicht erinnern. Die Leute, die mich und meine Schwester gefunden haben, sagten, dass wir die einzigen Überlebenden eines ganzen Wurfes gewesen wären. Außerdem glauben sie, dass ein Elternteil ein Tornjak gewesen sein muss. Tornjaks sind kroatische Herdenschutzhunde und eine sehr alte Rasse. Unser Job ist es, Schafe, Kühe und andere wichtige Tiere vor Bären und Wölfen zu beschützen, und zwar ganz allein. Außer uns und der Herde ist da nämlich niemand. Wir sind schon so erzogen worden, dass wir ohne Menschen klarkommen, und deswegen können wir auch alles eigenständig entscheiden. Müssen wir auch, ist ja logisch, wenn außer uns kein intelligentes Wesen da ist.

Die Übersetzerin sagt, dass diese Eigenständigkeit (nicht nur) bei unserer Arbeit für das Überleben der Herde sehr wichtig sei. Für sie sei es manchmal allerdings sehr anstrengend. Wenn sie mich ruft, überlege ich natürlich immer erst, ob es sinnvoll ist, was sie von mir will und ob von irgendwo Gefahr droht. Wenn ich nämlich glaube, dass sie einfach nur so ruft, um auszuprobieren, ob ich auch komme, komme ich nämlich erst recht nicht. Wäre ja auch Quatsch, so ohne Bär in der Nähe. Aber inzwischen sind wir ein gutes Team: Nachdem ich herausgefunden habe, dass Radfahrer und diese kleinen Schreihälse, die von anderen Menschen herumgeschoben werden, nicht gefährlich sind und deswegen auch nicht angegriffen werden dürfen, komme ich zu ihr, wenn sie mich ruft. Ich glaube, sie fühlt sich wohler, wenn sie glaubt, sie hätte alles unter Kontrolle. Außerdem höre ich inzwischen, wenn sie es ernst meint und habe die Erfahrung gemacht, dass sie meistens weiß, was sie tut. Deswegen gehorche ich dann auch… oft…

Wer meine andere Hälfte beeinflusst hat, weiß ich blöderweise nicht. Die Übersetzerin sagt immer, dass muss auf jeden Fall eine Bangebüchse gewesen sein. Die Rasse kenne ich nicht, aber ich glaube, dass sie sich über mich lustig macht. Ich bin nämlich ziemlich schreckhaft. Und wenn ich ganz ehrlich bin, habe ich vor den Biestern, die ich beschützen soll, eigentlich Angst. Naja, nicht nur vor denen…

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Voll gefährlich. Guckt angriffslustig. Muss nicht von mir beschützt werden.

Aber ist es denn ein Wunder? Verbringen Sie mal Ihre ersten Lebensmonate allein auf der Straße und sehen Ihre Geschwister sterben! Ganz davon abgesehen, dass es nur wenige Menschen gibt, die zu Straßenhunden nett sind; da ist es schon sinnvoll, sehr, sehr vorsichtig zu sein.

Glücklicherweise ist das alles vorbei, und ich habe es jetzt schön. Als ich vor inzwischen drei Jahren hier angekommen bin, war ich aber schon sehr skeptisch. „Hier“, das ist ein Ort namens Witzenhausen. Er befindet sich in Nordhessen, ist klein und überschaubar (sagt die Übersetzerin) und extrem rummelig und voller Menschen (finde ich). Aber drumherum ist viel Gegend, und da bin ich gern. Außerdem darf ich ein großes Grundstück bewachen und bin dabei sicher hinter einem ordentlichen Gartenzaun. Da haben meine Leute wirklich mitgedacht und sowohl meine Genetik (Herdenschutzhund) als auch meinen Charakter (Angsthase) berücksichtigt.

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Ich beim Bewachen des Grundstücks – wild und gefährlich guckend.

Aber ich schweife ab. Das mache ich übrigens dauernd, behauptet die Übersetzerin.

Mitten in der Nacht bin ich damals auf einem einsamen Parkplatz übergeben worden. Vorher saß ich in einer Transportbox mit vielen anderen Hunden und wurde darin von Mostar bis hierhergefahren. Das können Sie auf dem Titelbild sehen.Das mit dem roten Halsband ist meine Schwester. Die wurde in München abgesetzt. Ich bin das weiße Bisschen Fell am unteren rechten Bildrand. Es gab auch überhaupt keinen Grund, aus meinem Versteck herauszukommen.

Ich habe überhaupt keine Ahnung, was „Mostar“ ist, aber meine Übersetzerin hat mir erzählt, dass wir durch halb Europa gefahren sind. „Halb Europa“ klingt auf jeden Fall ganz schön weit. Verreisen Sie mal in einer Box! Und stellen Sie sich vor, dass bei jedem Halt auch noch einer Ihrer Mitreisenden verschwindet! Da denkt man sich nicht nur als Hund seinen Teil. Also können Sie sich wohl vorstellen, dass ich ordentlich Stress hatte!

Irgendwann kamen bei einem Halt zwei Leute, deren Geruch ich nicht kannte, schnappten mich und schleppen mich ein anderes Auto. Da habe ich mich dann erst einmal im Fußraum versteckt. Das waren meine neuen Leute, wie ich später herausgefunden habe. Aber erst wusste ich das noch nicht. Es hätten ebenso gut Hundefänger, Wissenschaftler, die mich für Tierversuche piesacken wollen oder sonst welche fiesen Mörder sein können!

Die Übersetzerin hat während der ganzen Fahrt „Gutschigutschi“ gemacht und gesagt, wie niedlich ich doch bin und dass ich mir keine Sorgen machen muss. Der Übersetzer hat nichts gesagt. Der ist gefahren. Dann hielt das Auto an, ich wurde auf den Arm genommen und in ein Haus getragen. Gleich nach dem Absetzen habe ich mich hinter der nächstbesten Zimmerpflanze versteckt. IMG-20161114-WA0007Dann hat der Übersetzer „Gutschigutschi“ gemacht, und die Übersetzerin hat gesagt: „Lass sie doch erst einmal in Ruhe. Die muss ja völlig fertig sein.“ Recht hatte sie. Ich war völlig fertig!

Außerdem war da noch so ein blonder, großer Hund, der an mir schnüffeln wollte. Ich wollte aber nicht beschnüffelt werden. Ich wollte unsichtbar sein. Und überhaupt am liebsten ganz woanders.

Puh, glauben Sie wohl, dass solche Erlebnisse für einen kleinen Hund ganz schön anstrengend und beängstigend sind!

Aber meine neuen Leute hatten mir ein schönes Bett gemacht, gleich neben dem blonden Hund. Da habe ich mich später hingelegt und bin vor lauter Schreck und Erschöpfung ein bisschen eingeschlafen. Kurz danach muss sich der Übersetzer heimlich dazugesetzt haben. Und er hat mit jeweils einer Hand die Blondine und mich gekrault. Das fand ich schön. Aber Angst hatte ich immer noch. WP_20161121_12_36_43_Pro

Später habe ich herausgefunden, dass der blonde Hund eine etwas ältere Labradorin war, „Luna“ hieß und immer mal zu einem Spielchen aufgelegt war. Außerdem durfte ich mich an sie ankuscheln. Das war auch schön. Am Anfang ist es schon beruhigend, wenn hund nicht so ganz allein ist.

Ich glaube, während der ersten Tage habe ich viel geschlafen. Kein Wunder!

Nach ein paarmal schlafen und fressen und viel Gutschigutschi und im Garten herumlaufen

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Ich bin das weiße Etwas hinter dem Busch, und Luna versucht, mich zu fangen. Hat aber nie geklappt.

haben mich meine Leute an eine Wand gestellt und über meinem Rücken einen Strich gemacht. 43 Zentimeter sei ich groß, sagten sie. Dann hat mich der Übersetzer auf den Arm genommen und ist mit mir auf ein Gerät gestiegen, auf dem Zahlen zu lesen waren. Das hat er ganz schlau gemacht: Erst ist er ohne mich draufgestiegen, dann mit mir, und die Differenz war mein Gewicht. 11 Kilo. Ich als Hund kann ja mit solchen Angaben nichts anfangen, aber meine Leute waren jedes Mal völlig aus dem Häuschen, wenn der nächste Strich höher war als der erste und ich zugenommen hatte. Ich habe aber auch immer ordentlich gefressen. Alles, was in meiner Reichweite war. Aber das ist noch einmal eine andere Geschichte, und es waren auch nicht immer alle begeistert darüber. Mein Rekord im schnellen Aufessen war ein Drei-Pfund-Roggenmischbrot. Etwas mehr als eine Viertelstunde habe ich dafür gebraucht, und danach war mir schlecht. Alle haben geschimpft, nachdem sie herausgefunden hatten, wohin das Brot verschwunden war. Aber da war es schon zu spät.

Ich schweife schon wieder ab, sagt die Übersetzerin und weigert sich, weiter zu schreiben, wenn ich nicht bei der Sache bleibe.

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